Stille Landschaften
„Die Landschaft änderte sich merklich: die höhere Böschung, die sogar streckenweise die Sicht nach der einen wie nach der anderen Seite versperrte, wurde fast ununterbrochen von dichten Büschen überragt, hinter denen sich hier und da ein Kiefernstamm erhob. Bis hierher wenigstens schien alles in Ordnung zu sein.“
Alain Robbe-Grillet, Der Augenzeuge, 1955 [1]
Welchen Sinn mag es haben, Landschaften und urbane Situationen – fernab der gewohnten Umgebung, fernab jeder Sensation – fotografisch festzuhalten? Wenn nicht einmal die (bewahrende oder vermittelnde) Dokumentation das Ziel ist? Ließe sich durch solche Ausschnitte vorgefundener Realität eine Erkenntnis gewinnen, die über die Landschaft selbst oder eine äquivalente Erfahrung hinausreicht, oder sind die Fotografien Metaphern für ein Anderes? Mit Nachdruck hat Walter Benjamin auf das Defizitäre von Fotografie hingewiesen, sie als Gefahr für die synästhetische – wirkliche – Wahrnehmung empfunden und mithin einen Verlust des Sinnlichen konstatiert. Benjamin spricht vom „Hier und Jetzt des Originals“, welches seine „Echtheit“ konfiguriere. Im Hinblick auf die Natur führt er dazu wie folgt aus: „Es empfiehlt sich, den (…) für geschichtliche Gegenstände vorgeschlagenen Begriff der Aura an dem Begriff einer Aura von natürlichen Gegenständen zu illustrieren. Diese letztere definieren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.“ [2]
Thomas Schüpping fotografiert Landschaften und urbane Situationen mit einer Intensität, die nach der Aura als authentischem Zustand des Eigentlichem fragt und den eigenen Standpunkt zwischen Präsenz und Absenz bedenkt. Er schafft Surrogate für Ursprünglichkeit und reine Schönheit.
Die Fotografien, um die es hier geht, hat Schüpping sämtlich in den Vereinigten Staaten geschossen: In der Mojave-Wüste, in dem Death Valley, in Nevada und Los Angeles und zuletzt New York. In der Mehrzahl aber handelt es sich um Situationen an der Peripherie der Zivilisation, wobei die Spuren des Aufgelassenen gegenüber denen der Besiedlung überwiegen.
Den weitaus größten Teil nehmen die Aufnahmen in der Mojave-Wüste ein. Schüpping konzentriert sich auf den kalifornischen Teil mit Temperaturen von über 45° C im Sommer. Er verzichtet auf touristische Attraktionen zugunsten des Unverbrauchten und Selbstbestimmten. Ihm liegt am Selbstverständnis der Landschaft, die er in ihrer relativen Monotonie aufnimmt, dazu in schwarz-weiß, überwiegend im Querformat. Er hält die Vegetation in der Weitläufigkeit der Wüste fest, welche sich über das Bild hinaus fortsetzt. Mitunter verlaufen durch sie Autostraßen und Schienenstränge, die wirken, als wären sie schon immer hier gewesen. Die Spannungsmasten vermessen in ihrem Rapport die Ferne und weisen auf Elektrifizierung und Telekommunikation; aber es scheint, als wäre die Zeit irgendwann stehen geblieben und die Technik außer Betrieb. Bei einzelnen Aufnahmen rückt Schüpping konstruktive Elemente – Fremdkörper in der Natur – deutlich ins Bildzentrum, wie etwa bei dem Klettergerüst auf einem Spielplatz, den er mit dem Abstand mehrerer Jahre noch einmal fotografiert hat. Aber auch da, immer wirken die Landschaften und Gegenden, die er in der Mojave-Wüste fotografiert hat, großzügig und in ihrer Leere lapidar, unabänderlich. Zu erwähnen ist, dass Schüpping, der sich in anderen Werkgruppen dem Menschen und seinem Antlitz in Ausschließlichkeit zuwendet, bei diesen Landschaftsaufnahmen ganz auf Personen verzichtet hat. Aber beiden Bereichen liegt das gleiche Engagement zugrunde: Thomas Schüpping arbeitet das Da-Sein seiner Sujets heraus, im „Entdecken – Sehen des einen Motivs“ [3], wie er dazu sagt. Konsequenter Weise geht er bei seinen Aufnahmen in der Wüste ohne archivarische oder karthographische Absicht dem Behausten wie auch dem Verlassenen nach, den Begleiterscheinungen des Transitverkehrs, der selbst kaum intakt ist. Er zeigt Gehöfte, die von Gebüsch halb verdeckt und als Motels nur noch teilweise genutzt werden, mit ihren Billboards und Schildern. Die Straße signalisiert die Durchfahrt ohne Halt. Und sie definiert den Horizont in seiner räumlichen Dimension. „Die Gerade ist eine Vorwegnahme der Hochgeschwindigkeit: die Geradlinigkeit der Trasse zwischen zwei Polen, zwischen zwei Städten nahm die Spur der schnellen Vehikel vorweg, den Reifenabdruck der Autoreifen wie den Kondensstreifen der Düsenjets am Himmel“, schreibt Paul Virilio in seiner „Bunkerarchäologie“. [4]
Thomas Schüpping schildert das Danach und den Verzicht. In seinen stärksten Fotografien lässt er uns die vollständige Entschleunigung spüren. Das passiert ganz ohne die Evidenz von Bewegung. Nur ganz selten ist in der Ferne ein Fahrzeug auf seiner Strecke zu sehen; einige Bilder zeigen einen Autofriedhof. Hingegen konzentriert sich die Hälfte der Aufnahmen auf die Schilderung der Wüste selbst, dort, wo sie vom Menschen unberührt ist. Thomas Schüpping wendet sich in seiner Fotografie der Gegend in ihrer gewachsenen Struktur zu; in den letzten Jahren betrifft dies besonders Bergketten und Anhöhen hinter einer weitläufigen Ebene. Sein Blick schweift von der höchsten Stelle über die Gebirge, deren Ausläufer nun wie die Pranken riesiger Urmenschen wirken. Dann wieder, bei anderen Bildern, nimmt er eine niedrige Perspektive ein, mit der er Piero della Francesca’s Untersicht in den Naturraum überträgt und dessen unabsehbare Weite betont. Im Vordergrund wachsen einzelne Büsche oder karge Baumstämme, mitunter die Joshua-Palmlilie. Schüpping notiert die Schärfe und Feingliedrigkeit der Blätter ebenso wie das Zerklüftete der Gesteinsformationen. Die Kamera hält jede Erhebung und jeden Riss in der trockenen Ebene fest – sachlich und präzise, dabei in tonaler Nuancierung, vermitteln diese fotografischen Schilderungen die Natur in ihrer Selbstbehauptung und spröden Sinnlichkeit.
Schüpping organisiert seine Aufnahmen nach klassischen Verfahren. Er arbeitet mit der Achsensymmetrie, etwa wenn er das Gleisbett von vorne in die Tiefe führt und so die Landschaft teilt. Und er komponiert seine Fotografien nach dem Goldenen Schnitt in einer konstruktiven Anlage; im Gespräch beruft er sich auf die Traditionen des Bauhaus. In seinen Aufnahmen verlaufen die Schichtungen der Natur häufig leicht schräg vom linken zum rechten Bildrand, wodurch eine unterschwellige Dynamik entsteht und die Syntax der Region augenscheinlich wird. Die konzentrierte Stilllegung in der panoramatischen Überschau und das demokratische visuelle Abtasten sind innerhalb der Landschaftsfotografie von Thomas Schüpping nicht voneinander zu trennen. Erinnert dieser Wechsel von Nähe zu Ferne, der keiner ist, nicht auch an die Wahrnehmung der Maler zwischen Klassizismus und Romantik, die nach Italien aufbrachen und die Alpen überquerten und auf diese Weise noch zu Komplizen der Geologen wurden, etwa Caspar Wolf und Joseph Anton Koch?
Schüpping erfasst die Landschaft in dem Sinne, dass er Augenzeuge ist, alle Dinge mit der gleichen Ernsthaftigkeit registriert und auf diese Weise die natürliche Verfasstheit bannt – unter den Auspizien, dass sie sich permanent wandelt und nie ganz zu erfassen ist. Er wählt die „klassische“ Fotografie an Ort und Stelle zur Erfahrung der Landschaft in Zeiten, in denen jeder Stein vom Weltraum aus digital gesichert, vermessen und ausgewertet wird. Er führt die Natur wieder der direkten Aneignung zu: als unbekanntes Terrain, als Welt ohne Menschen. Aber Schüpping liegt nicht am aufklärerischen Impetus eines Robert Adams, bei dem einzelne Sujets zu Zeugnissen und mithin Denkmälern werden. Vielmehr behält er sich auf seinen Fahrten das Planlose vor, ist ausschließlich und interessiert sich gerade nicht für die Eingriffe der Zivilisation oder für geographische Prozesse in der Natur. Schon das unterscheidet ihn auch von den Nachfolgern der New Topographic Movement. Er formuliert das vermeintlich ewig Gleiche und das schier Unendliche, und er wählt dazu die Textur des Kargen. Und er zeigt, dass diese „gewöhnlichen“, unspektakulären Orte ganz und gar nicht „leer“ sind, es aber der ausgiebigen Hinwendung bedarf, um ihre Vielschichtigkeit zu ahnen. In einem komplexen Prozess des Positionierens, Schauens und Wartens auf das rechte Licht wird das Erlebnis hier zur Einsicht. „Wir nehmen wahr – wir sehen. Wir sehen mit unseren Augen, und wir sehen mit unserem Geist. Wir wollen die Wahrheit über das Leben und alles Schöne sehen. Sie sind beide für uns ein großes Geheimnis“ [5], schreibt Agnes Martin, und Thomas Schüpping würde dies gewiss sofort unterschreiben.
Thomas Hirsch
[1] A. Robbe-Grillet, „Der Augenzeuge“, 1955, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1986, S. 175.
[2] W. Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, 1936, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1977, S. 14f.
[3] Gespräch mit Thomas Schüpping im Atelier in Düsseldorf, 26. März 2013.
[4] Paul Virilio, „Bunkerarchäologie“, 1991, München, Wien: Carl Hanser Verlag, 1992, S. 19.
[5] Agnes Martin, „Ruhe und Stille in der Kunst“, 1974 / 1992, in: Dieter Schwarz (Ed.), Agnes Martin, Writings, 6. Aufl., Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, 2005, S. 91.